"Holocaust? Kenne ich. Er wohnt bei mir nebenan."

Ein deutsches Jugendtheater führt in Israel eine Vorstellung auf, in der das Verhältnis der vierten Generation in Deutschland zur Shoah zum Ausdruck kommt. Nach einer Reihe von Provokationen, darunter auch Clowns, die das Wort "Holocaust" deklamieren oder ein junges Mädchen, das sich vom nationalen Trauma befreien will, indem es seine langen Beine mit Creme einreibt, ist das Publikum schockiert. Aber es kann nicht anders als zu genießen.

von Sarit Fuchs

Seltsam. Ich verließ die Vorstellung "Kinder des Holocaust" mit einem gemischten Gefühl aus Genuss und Erschütterung. Ist das wirklich seltsam? Es war ein gewagter Schritt, das Jugendtheater aus Leipzig nach Israel zu holen (und hierfür sei dem Goethe-Institut gedankt). Es hatte Stimmen gegeben, die meinten, dass Israel einer solchen Provokation nicht gewachsen sei. Denn das Stück zeigt junge Leute der vierten Generation in Deutschland, die aufgefordert sind, ihre eigene Erinnerung mit der Erinnerung an die Shoah zu verletzten. Sie haben der deutschen Pflicht zum Aufbau einer Gesellschaft nachzukommen, die sensibel ist für Menschenrechte und Humanismus, und müssen gleichzeitig mit der Geschichte ihres Heimatlandes leben. Die jungen Leute in der Vorstellung, bei denen es sich um authentische Jugendliche handelt, die als Amateurspieler auftreten, würden es vorziehen, bei McDonalds zu sitzen, ins Kino zu gehen, ein neues Mittel gegen Pubertätspickel zu kaufen oder ihren Vater umzubringen, der ihre Mutter schlägt, wie in einer Szene der Vorstellung verdeutlicht wird, die den Namen "Innere Stimmen" trägt. Wozu haben sie diese Scham und diese Demütigung nötig? Ihre Altersgenossen haben, wie im Programm angedeutet wird, zur Shoah ein ähnlich distanziertes Verhältnis wie beispielsweise zu den Kreuzzügen. Auf jeden Fall fehlt ihnen die nahezu spürbare Erinnerung der zweiten Generation, die den zweiten Weltkrieg noch von ihren Eltern mitbekommen hat. Es gehört Mut dazu, vor ein jüdisches Publikum zu treten, das zum größten Teil aus Gymnasiasten besteht (im Saal des Herzliya Ensembles), und diese intimem Erfahrungen einer Bekanntschaft mit einer Katastrophe preiszugeben, die von den Urgroßeltern der Jugendlichen in Deutschland herbeigeführt wurde, die Qualen der Konfrontation mit dem Material, die Wut über das Einverständnis, dieses zu verarbeiten, – ein Einverständnis, das sich niemals von dem Wunsch befreien kann, dem Albtraum zu entfliehen und ins "normale" Leben zurückzukehren. Das normale Leben von Jugendlichen im Pubertätsalter ist ohnehin schon belastet durch Schwierigkeiten und Demütigungen.

Bei dem "Material", das sie zu verarbeiten hatten, handelt es sich vorliegend um die Protokolle von Zeugnissen überlebender jüdischer Kinder, die in den Jahren 1945-47 nach der Befreiung niedergeschrieben wurden. Das Buch über die Protokolle, für die ich noch nicht einmal versuchen möchte, nach einem treffenden Attribut zu suchen (furchtbar, herzzerreißend etc.), wurde vor zwei Jahren unter dem Titel "Kinder über den Holocaust" in Deutschland veröffentlicht, unter anderem mit der Unterstützung des Vereins "Gegen Vergessen – Für Demokratie", was mich an eine Zeile von Nathan Zach erinnert: "Es gibt Erinnerung, und es gibt Erinnerung, und es gibt Erinnerung/Es gibt Erinnerung, die nichts anderes ist, als ein Staudamm gegen das Vergessen".

Als sich die Mitherausgeberin des Buches, Elisabeth Kohlhaas (die nach Israel anreiste), an die Dramaturgin des Theaters (Marion Firlus, die ebenfalls anreiste) wandte mit dem Vorschlag, auf der Grundlage der Protokolle ein Theaterstück zu erarbeiten, war den Leuten vom Theater klar, dass für das, was in den Protokollen geschildert wird, jeder Versuch einer Veranschaulichung durch Nachspielen oder Bebilderung von vornherein ausscheiden müsse. Sie entschieden sich daher für ein Stück in Form einer szenischen Collage, die in mehreren Ebenen spielt – postmodern, wenn man so will.
Eine der Ebenen auf der Bühne wird von jugendlichen Laiendarstellern dargestellt, die vor Produktionsbeginn in einem Casting ausgewählt wurden. Sie haben die Protokolle gelesen und vor der Aufführung an einem Werkstattkurs teilgenommen, dem ein Teil der dort erarbeiteten Materialen entnommen wurde. Die Vorstellung zeigt sie bei der Auseinandersetzung mit den Protokollen, aber auch bei ähnlichen Problemen und inneren Konflikten von Jugendlichen in der Phase der Persönlichkeitsentwicklung.

Parallel dazu gibt es die Ebene der Protokolle selbst, die auf der Bühne meistens von vier professionellen Schauspielern gesprochen werden. Alles, was man dazu braucht, ist ein Mikrophon. Die Texte werden von den Schauspielern manchmal aus der Sicht der Interviewer vorgetragen (die Kinder wurden nach dem Krieg interviewt), und manchmal als neutrale Zeugenaussage vorgelesen, und nichts hat eine größere Wirkung als dies, wie wir bereits vom Lesen des Buches "Mordverläufe" von Manfred Franke wissen, das auf Polizeiprotokollen über die Ereignisse der Kristallnacht beruht. Die Geschichte eines Mädchens aus "Kinder des Holocaust": "Drei Tage lang saß ich zwischen gelben Blumen an einem Ort, an dem ein wilder Beerenstrauch wuchs. An dem Strauch waren genau zehn Beeren, davon habe ich drei Tage gelebt. Am dritten Tag haben die deutschen Mörder alle erschossen. Ich bin allein. Ich habe niemanden. Ich bin so einsam wie ein Stein."

Auf der weißen Leinwand, – und dies ist die dritte Ebene -, werden kurze Gespräche ausgestrahlt, die im Laufe der Arbeit mit den Laienschauspielern geführt wurden – verworrene Sätze und Ausflüchte. Es scheint ihnen schwerzufallen, mit der Betroffenheit umzugehen, mit der Scham und der Abscheu. Und siehe da, schon kommt die große Provokation: Kaum hat die Vorstellung mit dem Vorlesen aus den Zeugnissen in den Protokollen begonnen, da wird die Bühne von einer Gruppe Jugendlicher betreten, die sich in einer Reihe vor dem Publikum aufstellen, eine rote Clownsnase aus der Tasche ziehen und sich beim Aussprechen des Wortes 'Holocaust' verhaspeln. Sie versuchen 'Holocaust' zu sagen, und heraus kommt "Ho…, Ho…", wobei sie fast ersticken und sich ihr Körper vor Anstrengung krümmt, während auf der Leinwand die Übersetzung ausgestrahlt wird: "Sho… Sho….". Das Publikum gibt keinen Laut von sich. Auch nicht, als folgender Dialog zu hören ist: Juliane: "Holocaust? Holocaust ist – Äh." Mandy: "Holo…, das ist weit weg." Jonathan: "Holocaust? Kenne ich. Er wohnt bei mir nebenan." Sascha: "Wenn du Holocaust hast, dann musst Du zum Zahnarzt." Philip: "Das ist irgendetwas, das mit Elefanten zu tun hat." Jessi: "Das ist irgendetwas Furchtbares." Julian: "Ich war da mal im Urlaub. Es ist schön dort."

Dies ist ein erschütternder Moment, doch zugleich so authentisch und charakteristisch für den universellen Lebenstrieb. Die roten Nasen erzeugen selbstverständlich eine Groteske – jenes Lächerliche, das dem Hässlichen begegnet. Doch nicht nur das: Die roten Nasen stehen für die Libido junger Leute, die gerne feiern würden, doch die Stimmen der Kinder, die im Holocaust fast ihr Leben verloren hätten, erheben sich aus den Protokollen, strömen auf die Bühne und fordern Präsenz bei ihrer Erinnerung.

Im weiteren Verlauf kommt es durch den ständigen Wechsel von Nähe und Distanz zu einer ausgeklügtelten Auseinandersetzung der Jugendlichen mit den Protokollen der Kinder des Holocaust. Zum Beispiel: Das Mädchen Charlotte aus den Protokollen erzählt, wie sie geflohen sei, sich als Deutsche verkleidet habe, in einem deutschen Haus aufgewachsen sei und an dem Tag, an dem sie von dem Tod ihrer Eltern erfuhr, in Tränen ausgebrochen sei und als Erklärung für ihr Weinen Zahnschmerzen angegeben habe. Charlotte versteckt in der Geschichte ihre Identität. Und beim Sprung in die Gegenwart, in der nächsten Szene, beschäftigen sich auch die Jugendlichen mit Fragen der Identität. Ein Mädchen fragt, wie es sein kann, dass kein Junge aus der Klasse sie will. Ein anderes Mädchen träumt davon, eine berühmte Schauspielerin zu sein, und ein Junge erwägt die Möglichkeit, Lehrer zu werden, weil dies ein sicherer Beruf sei. Und wieder geht es zurück zu den Kindern, die in der Shoah ihre Identität verstecken: Das Mädchen, das zwei Jahre lang bei einer reichen Polin gelebt hat und sich am Ende der Befreiung so sehr als Polin fühlte, dass es nicht zu den Juden zurückkehren wollte. Und von demselben Mädchen erfolgt wieder ein Zeitsprung nach vorn zu einem deutschen Jungen von heute, der seinem Vater endlich seine Identität enthüllt: "Ich bin schwul" (der Vater schlug ihm ins Gesicht). Die albtraumartige Vergangenheit und die vergleichsweise unbekümmerte Gegenwart werden einander bewusst gegenübergestellt. Die Empfindung, die entsteht, ist: Wie fließend ist der Übergang vom Banalen zur Zerstörung und vom Trivialen zum Fatalen.

Der ungarisch-deutsche Regisseur George Tabori war meiner Kenntnis nach der erste Dramaturg, der den Mut hatte, sich mit dem unbegreiflichen Übergang zwischen der Ebene des Menschlichen und der Ebene einer Verzerrung des Menschlichen zu beschäftigen, wobei er sich des Mittels der Groteske bediente. Ende der 70-iger Jahre rekonstruiert er die Bahnfahrt seiner Mutter ("Mutters Courage") ins Vernichtungslager, wobei sie peinlich genau ausstaffiert ist und von zwei lächerlichen Geheimpolizisten begleitet wird, von denen der eine asthmatisch ist und der andere unter Gicht leidet, und im Gedränge des Zuges in die Brustwarze gezwickt wird. "Entheiligung" des Holocaust? Im Gegenteil, sondern die Erzeugung von Grauen durch die Darstellung des Lächerlichen. Unendlich viele Tränen sind bereits vergossen worden, doch wenn der Zuschauer die Bedrohung durch das menschliche Potential an Bösem spüren und zu Erkenntnissen über seine Gegenwart und seine Beziehung zu Andersartigem gelangen soll, so gilt es, einen klaren Verstand zu bewahren. Damit die Lehren gezogen werden, darf rationales Denken nicht durch Tränen verdrängt werden. Wie George Tabori schrieb: "Wenn sich beide Seiten nicht gegenseitig als Menschen betrachten können, dann kann man genauso gut die Öfen wieder anzünden." Mit anderen Worten: Wachsames Denken, das frei ist von Schuldgefühlen, die mit Wut und Rachegefühlen einhergehen, kommt zu der Erkenntnis, dass Vorsicht geboten ist, denn der Holocaust wurde von Menschen herbeigeführt und wer weiß, wozu sie sonst noch in der Lage sind. Das ist es, was die Vorstellung "Kinder des Holocaust" sagen will und vor allen Dingen der deutschen Jugend, denn für diese wurde sie eigentlich gemacht.
Und tatsächlich gibt es, wie verblüffend, in der bescheidenen und kraftvollen Produktion "Kinder des Holocaust" keine Gefühle von Schuld oder Wut (das berühmte "Schuldig geboren" des Österreichers Peter Sichrovski gehört der vorausgegangenen Generation an). Und vor allem findet sich hier nichts mehr von dieser obsessiven Geschichte eines Holocaust zwischen deutschen Nazis und faschistischen Juden, mit der wir hier in Israel jahrelang drangsaliert wurden und die in Akko erneut den ersten Preis gewonnen hat.

Gegen Ende der Aufführung noch eine Provokation: Eines der Mädchen tritt an den Bühnenrand, betrachtet uns und beschwert sich: "Das war definitiv einmalig. Wie sollte ich mich damit gefühlsmäßig identifizieren können?" Und dann beginnt sie, ihre langen Beine einzucremen und ausführlich über die wunderbare Wirkung ihrer Körperpflege zu sprechen. Es ist wichtig, sich einzucremen, solange die Haut noch feucht ist. Nicht spannen, sondern nur leicht einmassieren. – Das ist so realistisch, dass man schreien möchte. Warum auch nicht? Wird im Fernsehen etwa nicht auch über einen Tsunami oder einen Mord in einer Familie berichtet und anschließend Werbung für ein glamouröses Schampoo gemacht? In den Text dieser raffinierten Produktion aus Leipzig sind ironische Andeutungen eingestreut. Das Mädchen sagt über ihre Haut: "Ich achte auf meine Haut, und sie schützt mich". Die Assoziationen überschlagen sich: Das Abziehen der Haut, der Haut, die die Juden nicht beschützt hat, wozu sich eincremen, wenn es überall alle möglichen Nazis gibt? Und vor allen Dingen denken wir: Mädel, es kommt Dir nur so vor, dass Dich irgendetwas auf dieser Erde beschützen kann.

Aus dem Hebräischen von Yakhin Chava HaEvri